Close

24. Juli 2019

Innenraum

Die Stimmen werden lauter. Jetzt ist es sicher, dass sie nicht in meinem Kopf sind, sondern dort draußen in der Welt. Ich versuche zu verstehen, was gesagt wird, lausche zögernd diesen fremden Lauten, die immer mehr werden und sich überschlagen. Wie Konfetti wirbeln die Gesprächsfetzen um mich herum. Meine Ohren versuchen, sie aufzufangen. Ich bin es nicht mehr gewohnt, neue Geräusche zu hören, verschiedene Tonhöhen, fremde Klänge. Lange hatte ich keinen Besuch hier.
Am Anfang wurde schon viel geredet in meinem Kopf. Die Stimmen haben geschrien, sich gestritten, gejammert und gefleht, sie haben heiß und innig geflüstert, voller Leidenschaft.
Aber dann haben sie sich bekämpft, sich einander Dinge vorgeworfen. Sie haben sich gegenseitig Raum weggenommen, sodass nur noch eine Idee von ihnen übrigblieb. Ohne Macht, ohne Leidenschaft sind sie verstummt, weil sie einander nicht frei lassen konnten. Nach und nach wurde es still, ab und zu brummte es noch etwas oder es gab ein leises Knacken, mehr nicht. Das Knacken war keine Stimme mehr, sondern das Geräusch der Knochen, die ihre endgültige Stelle suchten, für die Ewigkeit, in der man verharren kann und zu Staub wird. Die Knochen schieben sich in ihre bequeme Position, lassen sich durchhängen und sind bereit für den Verfall. Keiner erwartet mehr etwas von ihnen.

Plötzlich höre ich wieder Stimmen. Erst verstehe ich nichts von dem, was sie sagen, aber nach und nach sickert die Bedeutung durch. Eine Weile höre ich angestrengt zu. Ich lege die verschiedenen Teile zusammen und versuche dem, was ich wahrnehme, einen Sinn zu geben. Die inneren Stimmen werden von einer fernen Erinnerung geweckt, wollen mitreden und kriechen mühsam unter dem Staub hervor. Ich versuche mich aufzurichten und die Ohren zu öffnen, die kleinen Knochen protestieren mit leisen Seufzern.
„Heb mal an, Quint“ höre ich, und „geht das Fenster hier auf?“
„Krass, dieses Holz ist völlig morsch“
„Verehrte Elsbeth, ich bitte dich“, das war im Kopf, das war meine eigene Stimme.
„Na so was“, geht es weiter, „Kannst du mir das bitteschön erklären? Lass sie in Ruhe, Mutter muss in einer halben Stunde essen.“
Ich versuche, die Ohren wieder nach außen zu richten. Meine inneren Stimmen quälen mich.
„Lass den Staub liegen, das macht sich gut“, sagt eine Männerstimme, „Hier bitte keine Fußspuren, es soll verlassen aussehen.“
Ich warte und überlege, was passieren wird, wenn sie mich entdecken. Lange wohne ich schon allein hier, ohne Spur. Ich war die Leiche im Keller.
Als der Herbst kam und es im Keller zu feucht wurde, bin ich hier oben ins Wohnzimmer gezogen. Das Haus ist verlassen, man sagt, es spukt hier. Vor allem liebe ich es, wenn es draußen kalt ist, es stürmt und der Regen gegen die Fenster peitscht. Ich würde ein Buch lesen, wenn ich eins hätte.
„Elsbeth“, sagen die Stimmen, „Elsbeth, sieh mich an.“
„Sie riecht nicht frisch, ich muss in den Teich. Ich muss sie abspülen. Sie kann deinen Namen nicht einmal aussprechen.“
„Mutter?“
Die Stimmen aus dem Nebenzimmer wissen nicht, dass ich hier bin. Ich halte still. Ich heiße Sébastien. Das wissen sie auch nicht. Elsbeth hat meinen Namen nie richtig ausgesprochen. Das fand ich am Anfang sehr anziehend, später hat es mich irritiert. Sie werden gleich hierherkommen und entdecken, dass dieses kleine Zimmer der schönere Raum ist. Hier ist das Winterlicht noch gespenstiger, hier fühlt man sich noch mehr wie in einem verwunschenen Schloss.
„Quint, gibst du mir mal die Tasche dort an und Freddy, leg dich flach auf den Boden, fange das Licht ein.“
„Wer kann mit anpacken? Pass auf, da ist ein Loch!“
„Hast du das auch selbst gestrickt?“
„Japanische Wolle und Seide.“
„Super edel, steht dir klasse, du darfst nur nichts drunter anziehen.“
„Habe ich auch nicht.“
„Sag mal, was ist mit dem Raum dort, ist da auch ein Fenster?“
Das dachte ich mir. Ich ziehe mich in den Schatten neben dem Kamin zurück und mache mich so klein wie möglich. Meine Knochen knacken gespenstig, aber die anderen hören es nicht. Schon eine Ewigkeit hatte ich keinen Besuch hier. Das Schloss war lange Zeit verlassen. Ab und zu streiften Jugendliche fasziniert durch die Räume und es gibt immer mal wieder Tiere, die sich hier aufhalten, aber meistens lässt man uns in Ruhe. Der Wind pfeift durch die Zimmer. An manchen Stellen regnet es herein. Die rosa Farbe an den Wänden blättert ab, der Goldrand ist kaum noch zu erkennen. Die Möbel sind weg, nur noch einige kaputte Stühle sind geblieben. Die Teppiche sind verschwunden. Die Fenster sind zum größten Teil zerschlagen.
Elsbeth hat im Nachbarhaus gewohnt. Ich habe sie geliebt. Ein Musikstück habe ich für sie geschrieben und die Rosen im Garten über weite Bögen wachsen lassen, in der Hoffnung, dass sie eines Tages darunter hergehen würde. Abends habe ich mich oben ans Fenster gestellt und gewartet. Am Sommerabend, wenn das Geißblatt nach Heimweh duftet und der Wind sich gelegt hat. Wenn der Himmel sich verfärbt und die ersten Nachtvögel sanft durch die Luft segeln. Wenn das Wasser des Teiches spiegelglatt ist und die Lotusblüte sich geschlossen hat.

Elsbeth hat sich gewehrt, meine Liebe wollte sie nicht. Sie pflegte ihre Mutter, die klein und mager im Bett wartete und nach ihr rief, mit schwacher Stimme, eindringlich, dass sie Hunger hatte. Kein Essen konnte sie befriedigen. Sie war mürrisch und lief nachts herum.
„Hier ist ein super geiler Raum.“
„Wahnsinn, Leyla, das musst du dir anschauen, genau das Licht, das wir brauchen.“
Ich trete in den Kamin und klettere durch den Schacht nach oben. So ganz bin ich noch nicht bereit, Gäste zu empfangen. Meine Knochen knacken so laut, dass die Personen, die den Raum jetzt betreten, es hören müssen.
„Hört den Wind in den Bäumen draußen“, sagt eine Frauenstimme, vielleicht Leyla. Mir gefällt der Name und mir gefällt, wie sie redet, ein bisschen heiser. Sie muss sehr hübsch sein. Kurz bedauere ich meine Flucht, aber gleichzeitig weiß ich, dass ich nicht mehr unter den Lebenden sein soll.
Ich höre, wie sie mit dem Fotografieren anfangen. Der Kamin saugt gierig die Laute auf und bringt sie zu mir, ich freue mich, mein schwaches Gehör so verbessern zu können.
„Für Elsbeth“, sagt die Stimme im Kopf, und die Melodie schlängelt sich einen Weg zwischen meinen Ohren. Ja, das war ein schönes Lied. Ich liebte es, im Teich zu schwimmen, das Wasser war dunkel und kühl.
„Ich bitte dich, Sebbastjan, zieh dir etwas an“, sagt Elsbeth. Sie kommt mit ihrer Mutter am Arm zu Besuch, geht über den Weg aber nicht unter dem Rosenbogen hindurch. Hätte sie das getan, hätte ich sie geheiratet. Ihre Mutter sieht mich aus kleinen, scharfen Augen eindringlich an. Ich drehe ihr nicht den Rücken zu, das wäre unhöflich. Ich wollte sie provozieren. Eine Eitelkeit, ohne nachhaltige Spuren im Universum.
„Stell dich gerade hin, Leyla, schau direkt in die Kamera, Liv, du guckst Leyla an, ja, so.“
Das Foto hätte ich auch gerne. Ich bin dabei, mich in Leyla zu verlieben. Sie riecht bestimmt gut.
Nach dem Tod ihrer Mutter kam Elsbeth zu mir, in dieses Haus. Ich habe meine eigene Mutter nie gekannt, mir gefiel der Ernst, mit dem sie die Mutter betreut hatte, die Wechselwirkung zwischen Mutter und Kind. Das verletzte Wesen zog mich in den Bann, die unfreie Seele, die ewige Verbundenheit. Ich wollte eine Zuflucht für die strenge, steife Tochter bieten. Sie mit meiner Liebe wärmen.

„Quint, der Spiegel muss höher. Freddy, du noch mal auf den Boden?“
Da höre ich Leyla wieder: „Liv, das Kleid.“
„Hammer”, flüstert sie heiser und ich werde weich. Ich höre das Klicken der Kamera, einige Aufnahmen werden gemacht. Der Mann, dessen Namen ich nie erfahren werde, sieht das auch so:
„Geniale location, Jungs.“
Es ist mir egal, wie er heißt.

Sobald ich Elsbeth zu mir geholt hatte, hat sich etwas in diesem Haus verschlossen. Ich wollte es ihr recht machen, ich wollte sie lieben, genauso, wie ich sie von oben aus dem Fenster geliebt hatte, oder in der Ferne am Arm ihrer Mutter. Ich wollte mich nach ihr sehnen und mein Verlangen stimmen wie die Saiten meines Cellos, nachts im Mondschein, wenn die Nachtvögel rufen.
Aber ich konnte sie in meiner Nähe nicht ertragen. Ich konnte ihren säuerlichen Geruch nicht leiden. Sie war mir im Weg. Sie war mir zu viel. Es gab keinen Platz mehr für die großen Gefühle. Die brauchen den Abstand.
Jetzt liebe ich sie wieder, über das Grab hinaus. Ich drehe mich aufgeregt im schmalen Schornstein herum, Ruß und Steinchen rieseln runter. Ich will Liv im gestrickten Kleid sehen. Mit nichts drunter. Ich will Leyla anschauen, während sie mir eine Geschichte vorliest, mein Kopf auf der Innenseite ihres Oberschenkels. Ich will nackt aus dem Teich steigen und die Jungs provozieren. Mich zeigen. Ich will, dass sie Fotos von mir machen und rufen:
„Geil!“
Ich will die Stimme von Elsbeth hören, wie sie meinen Namen ausspricht und endlich ihr Lied singt. Sie traute sich nicht zu singen. Ihre Mutter hat ihr nur das Quengeln beigebracht. Aber sie ist nun auch schon lange tot. Wie wir alle.
Was bleibt, ist ein verlassener Ort voller Sehnsüchte. Ein Haus wird für die Liebe gebaut, aber hier hat sie sich nie niedergelassen. Das Feuer der Leidenschaft hat hier nicht gebrannt. Wir lebten hier wie in einer ausgeblichenen, spröden Postkarte mit vergilbten Ecken, ohne Tiefe. Ich hatte schon akzeptiert, dass alles umsonst gewesen war.

Bis heute. Bis diese Leute hierhergekommen sind und meinen Innenraum betreten haben. Sie haben mich wiederaufleben lassen und bringen Wärme in mein Haus. Ich lächle zahnlos, weil ich die Körper da unten spüre. Die schönen Strickkleider. Selig lausche ich den Stimmen.
Ein Fotograf ohne Namen. Quint, der die Sachen anpackt. Freddy auf dem Boden. Sie sind meine Helden. Sie sind wunderschön. Vor allem Leyla und Liv. Ihre Körper sind warm. Endlich wird mein Raum zum Leben erweckt.