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29. Juli 2019

Manfred weiß alles

Mein Mund wird härter. Meine Lippen öffnen sich ein wenig, streben auf ihn zu. Weiter, flüstert er, weiter aufmachen. Ich werde weich jetzt, ganz schlaff, der Widerstand schwindet. Meine Lippen saugen ihn ein, sein Instrument. Es ist hart und kühl, es hackt und gräbt und scheuert, aber ich merke es nicht, die Betäubung wirkt. Nur meine linke Hand zittert. Ich habe das Gefühl, das ich langsam höher schwebe, immer höher, ganz leicht und fein. Ich werde nur noch von einigen Tränen festgehalten, wie ein Spinnengewebe in der Herbstsonne von den Tautropfen gehalten wird, die das Netz erst sichtbar machen.

 

Jetzt bin ich plötzlich rechts oben unter der Zimmerdecke, neben dem Fenster, wo die Spätnachmitagssonne hineinscheint, und sehe mich selber, eine Frau im Zahnarztstuhl, die willenlos den Mund aufhält. Eine gefährliche Schlucht, mit scharfen Spitzen. Ich jage, den Bogen gespannt, die Haare oben auf dem Kopf fest zusammengebunden. Der Hund ist dabei, er ist neben mir, voller Kraft und voller Leben. Ich schleiche mich durch den Busch. Die Falle ist präpariert, scharfe Elfenbeinspitzen thronen auf starken Spießen. Sie lechzen sich nach weißem Fleisch, Fleisch mit Knochen, weiße Hände, die nicht in der Erde graben. Nie! Die Beute ist nah, ich schleiche weiter gegen den Wind. Die Nasenflügel zittern. Ich sehe von oben zu, wie die Beute sich der Falle nähert.

 

Wie der dunkelhaariger glattrasierter Zahnarzt sich sicher hinter seinem Mundschutz verschanzt. Wie unsere Nasen sich fast berühren, wie die Lampe auf seinem Kopf ein rosafarbenes Licht in meinem Rachen bringt.

Mir gefallen die behandschuhten Hände, die mich berühren, sie fühlen sich kühl und unbesiegbar an. Ich versuche den Impuls, in einen der Finger reinzubeißen, zu unterdrucken, liege reglos da, mit aufgesperrtem Mund.

Oben an der Zimmerdecke schaue ich zu, wie meine linke Hand zittert. Die liebe Helferin sieht mich mit großen Augen an. Sie hat tiefbraune Augen und der Haaransatz ist hoch und geschwungen. Eine schöne Frau, sogar mit Mundschutz. Was sie wohl für Lippen hat? Von oben kann ich sehen, dass sie schnell und geschickt alles aus den Schubladen holt, was der Zahnarzt braucht. Sie hat einen kleinen Rüssel in der Hand und saugt meinen Mund leer, sie hat ein Gebläse und bläst damit das Kunstwerk tief im Mund trocken. Sie konzentriert sich und hat eine sehr enge weiße Jeanshose an. Hellblaue Unterwäsche. Sie schaut mich an, schüttet den Kopf, ihre Augen werden noch größer, noch schöner, sie schreit plötzlich auf. Ich habe sie gebissen. Meine Zähne klammern sich um ihren Ringfinger und mein Kopf sackt beiseite. Die Maschinen halten abrupt an. Alles ist still. Die Beute ist gefangen, sie verblutet. Es ist warm und weich um mich herum, und ein sanftes Licht scheint in der Ferne. Ich spüre nichts, keine Angst, keine Hoffnung, keine Schmerzen. Ich bewege mich langsam zum Licht.

 

Frau Wittgenstein geht mit der grünen Gießkanne zum Friedhof. Sie vertraut den Leuten nicht. Haben Sie eine Gießkanne, wird sie sofort geklaut, sagt sie. Nicht einmal auf dem Friedhof hat man Respekt für das Eigentum voneinander. Die Schlimmsten sind die neugierigen Hausfrauen, sagt sie. Die quatschen den ganzen Tag und klauen die Gießkannen vom Friedhof. Die haben nämlich nichts anderes zu tun.

 

Das Wasser füllt sie am Friedhofshahn in ihre Kanne. Sie gießt die Blumen und Pflanzen der verschiedenen Gräber ihrer Verwandten. Sie gießt das Grab der Gisela. Sie zupft hier und da Unkraut aus den Beeten. Mit einem Zipfel ihres karierten Flanellhemdes fegt sie über das Bild des Vaters. Dort hat sich klebriger Blütenstaub gesammelt. Sie wischt die Hände an die Jeans ab und geht zum Grünabfall-Container. Leider sind diesmal keine Blumen zu finden. Obwohl heute die Gärtner-Firma dort war. Ob jemand anderes ihr zuvor gekommen ist? Nicht einmal die aussortierten Blumen lässt man mir, denkt sie bitter. Sie überlegt sich, nächstes Mal noch früher zu kommen. Vielleicht sollte sie im Busch lauern, bis die Friedhofsgärtnerei fertig ist. Wenn sie dann wegfährt, könnte sie schnell zum Container rennen.

 

Oder sie könnte den Container im Auge behalten und einfach mal zuschauen, welche unverschämte Person die Blumen klaut. Sie zu Rede stellen. Sagen “dies ist städtisches Eigentum gute Frau”, denn dass es sich um eine Frau handelt, davon ist sie sich sicher. Bestimmt so eine Hausfrau mit Langeweile. Sie könnte versuchen, die Diebin einzuschüchtern und mit einer Anzeige drohen. Nur sieht sie im Moment niemanden, und sie will sie das Haus nicht zu lange unbewacht lassen. Sie darf sich nicht zu lange auf dem Friedhof aufhalten.

 

Wer weiß, vielleicht wird sie in genau diesem Moment selber auch ausspioniert. Vielleicht stehen die Einbrecher hinter einem Baum und beobachten sie, wissen, dass sie auf dem Friedhof ist. Oh gott, vielleicht steht hier einer von ihnen ganz in der Nähe und gibt seinen Kumpanen ein freches Zeichen, weil er sieht, dass sie selber sich in Lauerposition aufgestellt hat. Dann wäre das ganze Haus leer geräumt, wenn sie zurückkommt.

Sie füllt schnell die Gießkanne am Wasserhahn wieder auf, nur halbvoll, denn sonst ist sie zu schwer, und eilt mit hölzernen Schritten über die Straße zurück zu ihrem Haus, wie eine Riesenschnecke eine feuchte Spur hinter sich her ziehend. Die Spur könnte sie verraten, aber sie verdunstet schnell.

Es ist ein trockener Sommer, genau wie im letzten Jahr. Sie gießt die Pflanze im Kübel neben der Haustür, und die ersten beiden Pflanzen der Taxushecke, schließt auf, stellt die Gießkanne in den Flur. Hinter sich verriegelt sie die Haustür. Stellt den spanischen Stuhl noch davor. “Oft kommen Einbrecher einfach durch die Tür”, hat Herr Müller behauptet. Nicht bei mir, denkt Frau Wittgenstein, nicht bei mir.

 

Die Abendsonne badet das ganze Haus in einem goldenen Licht. Frau Wittgenstein ist die einzige Bewohnerin der Straße, die um diese Uhrzeit noch Sonne hat. Die anderen Häuser liegen schon im Schatten.

Das Haus, das in der goldenen Sonne steht, hat die Augen zu, denn die Möbel und vor allem die Teppiche sind lichtempfindlich. Erst wenn die Dämmerung eingetreten ist, werden die Rolladen kurz bis auf halbe Höhe aufgezogen. So bald die Dunkelheit eintritt, rauschen sie wieder herunter.

 

Frau Wittgenstein liest unter der Leselampe die Post, die sie heute Mittag aus dem Briefkasten genommen hat. Die Werbung.

Das Geflügel im Supermarkt ist billig. Der Speck auch, aber nur der gewürfelte. Frau Henn und Frau Speck aus der Bank in Witten, Immobilienmanagement. Sie ergänzen sich, wenn die eine krank ist, ist die andere dort.

 

Frau Wittgenstein ist oft in der Bank. Sie hat ein Haus zu verwalten. Und sie hat einen Job. Plus Unterhalt von ihrem Ehemann, der sich vor 15 Jahren einer neuen Praxisgemeinschaft angeschlossen hat, ungefähr 5 Autostunden südlich von Witten. Da kann man nicht pendeln. Er hat dort eine Wohnung. Er kommt selten oder nie zu Besuch, schickt aber immer den Unterhalt.

 

Das Geld darf nicht offen und nackt herum liegen, schon mal gar nicht im Haus. Es gibt viele Einbrecher, jede Nacht. An der Wand hängt die Karte, die sie im Polizeipräsidium mitgenommen hat. Auf dieser Karte hatte der etwas ältere Polizist ihr gezeigt, in welchen Straßen diesen Monat schon eingebrochen wurde. Diese Straßen hat sie rot angemalt. Wie ein Netz aus tiefroten, pulsierenden Blutadern streckt die Kriminalität sich über ihre Wand aus.

 

Sie hat lange gebraucht, bis sie diese Karte sehen durfte, 8 Telefonate und 3 Besuche im Präsidium. Aber letztendlich hatte sie Erfolg. Sie wurde von Herrn Müller empfangen und die Karte lag da ausgebreitet auf seinem Schreibtisch. Mit einem Bleistift kreuzte er die Straßen an, wo in dem Monat schon Einbrüche gemeldet wurden. Gemeldet.

“Die Dunkelziffer liegt bestimmt noch viel höher”, sprach Frau Wittgenstein, zufrieden über den fachmännischen Ausdruck.

 

Als plötzlich das Telefon auf dem Schreibtisch ging, der Polizist eine Entschuldigung murmelte und das Gespräch annahm, hat sie die Karte schnell zusammengefaltet und flink in ihre Tasche verstaut. Die Kreuze, die von der dicklichen weißen Hand draufgemalt worden waren, würde sie zuhause alarmierend rot ausmalen, die ganze Straßen klar markieren. Die Wahrheit konnte nicht mehr länger verborgen bleiben, sie musste aufgedeckt werden, sie musste an die Wand.

 

Herr Müller hat sie müde unter hängenden Augenlidern angeschaut und das Gespräch in die Länge gezogen, indem er nach den Einzelheiten der Kleidung der Randalierer fragte, ob sie Kappen trugen und zwar falsch herum. Frau Wittgenstein ist mit der Beute geflohen.

 

So. Die verdammte Werbung. Die wird entsorgt, ungelesen. Die Notiz am Briefkasten muss erneuert werden. KEINE WERBUNG BITTE. Während Frau Wittgenstein die Wut noch spürt, die sich in diesem Moment in ihr breitmacht, fällt ihr eine Einladung in die Hand. Straßenfest.

Jedes Jahr wird sie dazu eingeladen, noch nie ist sie hingegangen. Was soll sie dort? Sie weiß nur zu gut, dass einige Nachbarn, wenn nicht alle, es auf ihr Haus abgesehen haben. Sie wollen sich mit ihr gutstellen, so dass sie ihnen vertraut. Sie wollen sie auf Parties einladen. Sie betrunken machen. Versprechungen oder gar Verträge von ihr abringen. Eine alleinstehende Frau hat es nicht leicht. Schließlich wird sie noch den einen oder anderen Nachbarn in ihr heißgeliebtes Elternhaus bitten müssen, so dass sie sich alles genau anschauen können. Und dann wundert man sich, wenn eingebrochen wird. Sie legt die Einladung in die Schachtel für Altpapier.

 

Bärbel Kosalla nimmt auch die Einladung aus ihrem Briefkasten. Straßenfest. Sie freut sich darauf. Es ist wieder eine wunderschöne Einladung, mit einem weiten Strand. Bärbel hat das Meer noch nie gesehen. Sie ist auch noch nie auf das Straßenfest gekommen, sie hat eine Krankheit, sagt sie. Panikattacken, sobald mehrere Personen um sie herum sind. Sie bekommt dann keine Luft mehr. Eine Feier, draußen, auf der Straße, ungesichert, mit vielen Menschen, nein, das schafft sie nicht. Aber die Einladung ist schön. Sie kommt an die Wand, neben die anderen 10. Die ersten sind schon von der Sonne verblichen.

 

Bärbel seufzt. Es ist warm im Haus und sie soll abnehmen, hat der Arzt gestern gesagt. Sie schüttelt den Kopf. Den Ärzten vertraut sie schon lange nicht mehr, sie haben viel zu wenig Zeit für ihre Patienten, sie hören nicht richtig zu, verordnen was man zu tun und zu lassen hat, haben meistens selber ein verkorkstes Leben. Und manche bringen einen einfach um. Todesursache iatrogen, auch wenn es anders auf dem Todesschein steht.

Manfred liegt ausgestreckt auf der Eckbank. Er schläft. “Du darfst dahingehen” flüstert sie liebevoll und packt die Leckerbissen, die sie in aller Frühe im menschenleeren Supermarkt schon eingekauft hat, in den Schrank.

Bärbel weiß, dass auch ihre Nachbarin, die Frau Wittgenstein, nicht auf das Fest gehen wird. Sie hat sie noch nie dort gesehen. Sie traut sich nicht auf ein Straßenfest.

 

Bärbel kennt die Geschichte. Sie hat Herr Dr. Wittgenstein persönlich gekannt. Zahnarzt war er. Plötzlich ist er weggezogen, nachdem ihm infolge eines Skandals die Patienten weggeblieben waren. Eine Frau hatte die Behandlung nicht überlebt. Mund zu Mund Beatmung war wohl eher keine Option.

Sie ist noch in der Praxis verstorben, alle sonstige Maßnahmen kamen zu spät. Sie war eine gesunde Frau ohne Vorerkrankungen, wie die Obduktion erwiesen hatte.

 

Auf dem Beerdigungskaffee hatte Bärbel die Worte des Zahnarztes gehört, er müsse jetzt einen Schlussstrich ziehen. Auch wenn er wahrscheinlich vor Gericht freigesprochen werde, müsse er weg hier. Das Dorf sähe ihn wie einen Mörder. Seine Frau komme wohl nicht mit, sie müsse das Haus bewachen, das ihr Vater doch mit eigenen Händen gebaut hatte.

 

Oben im Schlafzimmer von Bärbel Kosalla gibt es ein kleines Fenster, das einen Blick auf die Straße erlaubt. Auf das Straßenfest. Vor diesem Fenster sitzt Bärbel, Jahr für Jahr, isst ihre Wurstbrote, ein Schälchen Kartoffelsalat, die Käsehappen.

So feiert sie sicher und gut aufgehoben mit.

Manfred ist zu dieser Zeit meistens unterwegs. Er verlässt das Haus, so bald es dunkel wird. Aber Manfred kommt immer wieder zurück zu ihr. Nicht wie Herrn Dr. Wittgenstein. Er hat mit einer jungen, blonden Assistentin eine Familie gegründet. So vermutet Frau Wittgenstein, die ihn in den letzten 15 Jahren nie wieder gesehen hat.

 

Die neue Frau ist nicht blond, sie ist dunkelhaarig. Jung ist sie schon. Und sehr hübsch. Der Skandal um die tote Patientin hatte tatsächlich vermieden werden können, denn man hatte nachgewiesen, dass der Narkosearzt Schuld war. Aber zur Sicherheit hat der Doktor eine neue Familie gegründet, 439 Kilometer Richtung Süden.

 

Bärbel freut sich auf das Straßenfest.

Frau Wittgenstein hat die Rolladen halb hochgezogen. Das Haus sieht schläfrig aus.

 

Ich heiße Lena. Mein Weg führt über die Wiese zum Wald. Der Hund läuft hinter mir, es scheint ihm schon zu warm heute, obwohl es noch sehr früh ist. Das Gras ist noch nass. Die frühe Morgensonne scheint durch die Bäume des Waldes hindurch. Ich warte auf den Hund. Er sieht mich unheimlich traurig an. Er ist schon alt, scheint jeden Tag langsamer zu werden.

 

Gleich hat er einen Termin beim Tierarzt. Die faul riechenden Zähne müssen wahrscheinlich gezogen werden.

Später muss ich auch selber zum Zahnarzt. Ich versuche, da nicht zuviel dran zu denken. Ich habe von Leuten gehört, die beim Zahnarzt verstorben sind. Das sage ich dem Hund nicht, man soll nicht unnötig Angst verbreiten.

 

Der Hund in Narkose sieht so hilflos aus. “Das ist kein fauler Zahn” sagt der Tierarzt, “das ist Krebs”. Überall, in den Mund- und Rachenraum. In der Speiserohre.

“Es ist besser, wir beenden das jetzt” sagt der Tierarzt und zeigt mir die Spritze. Ich nicke.

“Ist er jetzt tot?” frage ich

“Wollen Sie noch ein paar Momente bei ihm bleiben?” fragt der Tierarzt. Ich schüttele den Kopf. Das ist mein Hund nicht mehr. Das ist etwas anderes. Ein totes Tier.

“Wollen Sie die Asche später abholen?” fragt der Assistent.

Ich zahle, die Tränen tropfen auf den Boden, meine Nase läuft. Ich schüttele den Kopf. Ich bin auf der Straße, in der Sonne. Der Wind ist sanft und überall blühen Blumen. Die Luft ist unwahrscheinlich blau. Der Hund ist tot. Dort drinnen habe ich ihn zurückgelassen. Er hat mir vertraut.

 

Mein Weg führt über die Wiese zum Wald, ich gehe ihn alleine jetzt. Wie einen Schatten spüre ich noch den Hund neben mir, 12 Jahre lang waren wir zusammen spazieren.

 

Ich sehe Manfred. Ich grüße ihn. Das scheint ihm egal zu sein. Ich erzähle ihm, der Hund sei tot. Er dreht sich um und schlängelt sich durch den Zaun, zurück zu Bärbel.

 

Immer wieder kommen mir die Tränen. Ein Hundeabdruck ist überall zu sehen, im Gras, auf der Hundedecke, im Auto.

Ich habe heute Nachmittag einen Termin beim Zahnarzt. Ich werde Narkose brauchen. Vielleicht hilft die über die Schmerzen hinweg. Vielleicht kann ich dann die Tränen einfach laufen lassen, keiner wird mich dort nach dem Hund fragen und ich kann im Behandlungsstuhl ausgiebig weinen. Die liebe Assistentin wird mich trösten und denken, dass ich Schmerzen habe. Dass ich empfindlich bin heute. Sie wird die Dosis erhöhen und ich werde mit einem Taxi nach Hause fahren.

 

Der Zahnarzt sieht mich hinter seinem Mundschutz an. Seine Augen sind grau, mit gelben Flecken. Er hat eine Lesebrille auf, ich hoffe, er weiß, was er tut.

Die Assistentin hält den Saugrüssel in meinem Mund und ich schließe die Augen.

 

Ich öffne die Augen wieder. Um mich herum ist alles weiß. Es dauert eine Weile, bis ich zu mir komme. Dies ist ein unbekanntes Zimmer. Es sieht wie ein Krankenhauszimmer aus. Ich liege auf einer schmalen Liege und sehe, wie mein Mann am Fenster steht, weit weg, unerreichbar. Ich starre auf seinen Rücken.

 

Die Arzthelferin wurde von mir nur leicht verletzt. Nur gebissen, ich habe keine Tollwut. Aber dennoch würde ich ihr raten, die Bisswunde sofort mit vielem Wasser und vor allem Seife auszuwaschen. Spülmittel geht auch. So kann man vermeiden, dass das Rabiesvirus sich in die Blutbahn ausbreitet und so die tödliche Enzephalitis verursacht. Ein behülltes Virus mit zylindrischer Form ist das, es verbreitet sich schnell und ist ganz gefährlich.

 

“Der Hund ist tot” sage ich meinem Mann, der von der Arbeit zurückgekommen ist und gleich in die Praxis gefahren. Er antwortet nicht, sieht mich nur düster an. Das ist seine Art, zu trauern, er weint nicht oft. Als sein Vater gestorben war nur ganz kurz. Aber er schaut dann so düster aus.

 

Eine andere, unverletzte Zahnarzthelferin kommt ins Zimmer und fragt bissig, ob es mir nun besser geht. Sie misst keinen Blutdruck, Fieber oder Puls, sie hält ihren Abstand. An dem Morgen wurde mein Hund bei der Zahnbehandlung eingeschläfert, das weiß sie nicht. Sie hat die auch Geschichte der Gisela nie gehört, die früher in unserem Dorf wohnte und die vom Zahnarzt aus meiner Straße umgebracht wurde.

Während sie hilflos im Stuhl lag, mit dem Mund weit aufgesperrt.

 

Wenn man die Tollwut hat, kann man gar nicht mehr richtig schlucken, weil der Rachen gelähmt wird. Es bildet sich Schaum vor dem Mund. Man bekommt einen unsäglichen Durst und kann nicht trinken. Man ist verwirrt, hat Angst und der leichteste Luftzug kann einen wütend machen.

Wir können wieder nach Hause, sagt der Arzt, auf eigener Verantwortung. Mein Mann unterschreibt ganz ritterlich die Entlassungspapiere. Wir sind frei.

 

Es ist Straßenfest in unserer Straße. Einige Nachbarn haben sich versammelt. Manfred, der dicke Kater von Frau Kosalla, liegt mal wieder auf einem Autodach. Frau Kosalla sitzt hinter ihren Gardinen und isst Wurstbrote. Frau Wittgenstein lässt die Rolladen runter, sie schämt sich, weil sie genau weiß, wie wir alle, dass ihr Mann sie verlassen hat und mit einer jungen Frau eine neue Familie gestartet hat.

Sie weiß auch, dass er mit Schuld daran war, dass Gisela gestorben war damals, er hätte eigentlich nie diese starke Narkose in seiner Praxis durchführen dürfen. Aber erstens ist es richtig schwierig, einen medizinischen Behandlungsfehler zu beweisen und zweitens hatte er einen guten, berüchtigten Rechtsanwalt.

 

Ich setze mich zu den Nachbarn ans Lagerfeuer und wir reden über den guten Hund. Alle mochten ihn, sogar Manfred.