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24. Juli 2019

Schiffsbohrungen

Heute ist ein ruhiger Oktobermorgen, es ist etwas neblig. Albrecht Heinemann sitzt auf seinem Stuhl an der Straße. Er beobachtet die Leute, die beim Bäcker einkaufen.
Es kommen zwei Frauen an, sie gehen schnell und tragen Wanderschuhe. Sie stapfen an ihn vorbei, er grüßt kurz. Sie schauen erschrocken hinter sich, ob dort jemanden zu sehen ist. Sie sind zu verwundert um den Gruß zu erwidern und gehen schnell in den Brotladen hinein. Albrecht Heinemann lacht leise vor sich hin.

Sie sind neu auf der Insel und noch im Festlandmodus. Sie bewegen sich rastlos. Sie sehen nervös um sich. Sie sprechen über seine Kleidung. Das hat er gehört, als sie mit den Brötchen weitergegangen sind. Später wird er sie fotografieren, aber sie wissen es noch nicht. Er auch nicht.

“Der Sand stimmt dieses Jahr gar nicht”, sagt Elke seufzend. “Man hat den falschen Sand aufgeschüttet, er ist so fein, dass man ihn nicht aus den Haaren kriegt, bestimmt ist nachher das ganze Bett voller Sand. Und der Wind bläst ihn so scharf ins Gesicht, dass es weh tut. Wieso gibt es keinen gröberen Sand hier?”.
Ruth schüttelt wissend den Kopf: “Man hat keine freie Auswahl damit, man soll sich mit dem Sand zufrieden geben, den man bekommt! Das hat der Hafenmeister gesagt”.

Ich höre die Frauenstimmen im Wind und arbeite einfach weiter, es interessiert mich nicht mehr. Was soll man sich am Sand aufhalten, wenn es ein unendliches Universum gibt, das sich ständig ausbreitet. Mehr Sterne als Sandkörner auf der ganzen Erde! Was sind wir überhaupt, nur ein Hauch, mehr nicht. Nicht einmal ein Gedanke, der zu Ende gedacht wurde. Man nimmt sich, was man braucht, lebt und lässt leben.

Ich kann mehrere Male im Leben das Geschlecht umwandeln, ich bin frei. Ich wurde als Mann geboren, aber entscheide mich immer mal wieder um.
Ich muss mich ja auch noch um den Nachwuchs kümmern.

Meine Vorfahren haben damals den Weg Richtung Osten eingeschlagen. Sie sind in der Nordsee gestartet, haben Hiddensee jetzt schon erreicht. Hier gibt es viel zu fressen, ein wahres Schlaraffenland für eine Schiffsbohrmuschel. Ich freue mich sehr, dass auf dieser Insel so viel geboten wird, und dass man sich hier so ungeniert fortpflanzen kann.

Sobald sie auf die Welt gekommen sind, habe ich meine Nachfahren Richtung Usedom ausgesendet. Und ich habe weiter gegessen. Ich nage und nage und richte es mir gemütlich in der Höhle ein. Eiche ist mein Lieblingsholz. Sobald mein Gang gebohrt ist, kleide ich ihn mit Kalk aus. So wird es richtig wohnlich. Ich habe jetzt nicht mehr vor, diese Höhle je wieder zu verlassen. Es hat eine Weile gedauert, aber ich bin jetzt fertig, habe für mein Leben genug gearbeitet. Langsam komme ich zur Ruhe. Du willst wissen, wie ich es schaffe, Holz zu essen, es zu verdauen? Man muss nur die Zellulose zersetzen. Dazu baue ich mein eigenes Enzym an, die Zellulase. Siehst du, ich mache fast alles selbst. Man kann mich ruhig unsozial nennen. Mir geht es gut. Ich sitze in meiner Höhle.

Meine Urahnen waren draufgängerischer als ich. Die wildesten Geschichten machen die Runde. Da ich ein wahnsinnig detailliertes Gedächtnis habe, kann ich sie weitererzählen. Man behauptet, mein Gedächtnis ist gar nicht meins, sondern ich lese das uralte Seesalz. Man behauptet, ich kann aus dem salzigen Wasser die Informationen filtern, die Daten auslesen. Vielleicht stimmt das. Ich kenne jedenfalls Geschichten, die sind mehr als 500 Jahre alt. Man darf nicht vergessen, ich werde nur 4 Jahre leben.

Meine mutigen und unerschrockenen Vorfahren haben große Schiffe zersetzt. Zum Beispiel das des Christoph Kolumbus. Er hat 4 wichtige Reisen gemacht und meine Vorfahren haben dafür gesorgt, dass ihm 9 Schiffe gesunken sind. Die abergläubischen Seeleute haben gedacht, der Teufel sorgt dafür, dass das Schiff unter ihren Füßen zerbröselt. Was lache ich immer wieder, wenn ich diese Geschichte höre, was wedele ich da euphorisch mit den Siphonen durchs Wasser. Was für eine starke Familie ich habe. Wir überleben alles. Wir wechseln das Geschlecht, wie wir Lust haben, wir kriegen Kinder, so viele wir wollen. Wir schicken sie gleich weg. Wir fressen alles und produzieren Enzyme, damit es verdaut werden kann. Wir graben Tunnel durch das Holz und sind raffiniert genug, nur eine ganz kleine Öffnung nach draußen zu halten. Oh es sieht so unschuldig aus, das Holz scheint lediglich einige kleine Piekser zu haben und dabei fällt es fast auseinander, weil es innen ganz hohl geworden ist.

Nicht einmal wenn das Holz eine Weile in Süßwasser gelegt wird, kann man uns da raus treiben. Wir machen einfach die Klappe zu und warten ruhig in unserem Tunnel ab.
Es kommen immer wieder bessere Zeiten.

Hier wohne ich nun in meinem fertigen Tunnel auf Hiddensee. Habe mich fortgepflanzt, die Kinder sind schon ausgetrieben, ich habe ein Haus gebaut. Es geht mir gut. Ich lausche den Gesprächen von Elke und Ruth, die sitzen jetzt auf meinem Steg. Sie wissen nicht, dass meine Freunde und Verwandten diesen Steg fast komplett verdaut haben.

Es erregt mich nicht mehr wie früher, die Stimmen der reifen Frauen zu hören, das Rascheln der Röcke, das Klappern der Sandalen. Ich weiß nicht einmal mehr, ob ich Mann oder Frau bin jetzt. Es ist auch nicht wichtig. Ich brauche nur meine Ruhe. Ab und zu lese ich etwas. Meine Höhle ist offen, das Wasser fließt rein und raus und bringt mir Informationen. Die reichen mir. Den Rest mache ich mir selbst.

Ich höre ihre Gespräche gegen den Wind. Sie sprechen lauter als mir lieb ist. Sie haben keine Sandalen sondern Wanderstiefel an.

Sie haben heute einen alten Mann beim Bäcker gesehen, der eine verschlissene Jeans anhatte und ein weißes T-Shirt. Und das sah sogar ganz gut aus. Ein Rentner soll keine Sandfarben anziehen. Nicht aussehen wie der Treibsand auf dem Strand von Hiddensee, er soll besser etwas Weißes anziehen. Ich verdrehe die Augen in meiner Höhle. Davon habe ich natürlich gehört, Gruppen älterer Menschen, die sich wie eine Wanderdüne fortbewegen, ganz in beige gekleidet. Aber mir ist das egal.

Ich höre, wie sie hin und her rutschen. Das Piepsen verrät, das ein Mobiltelefon angeschaltet wird. Elektrosmog! ich versuche, noch etwas tiefer in meinen Gang zu kriechen.

“Meinst du den da? Der ist nicht wirklich hässlich, muss ich schon sagen. Aber das Sofa. Sieh dir doch das Sofa an, nur ein Idiot würde sich auf so einem Sofa fotografieren lassen. Er hat jemanden gebeten, ihn zu fotografieren, und diese Person hat auch keinen Geschmack, oder sie ist bösartig. Also Ruth, wenn du mich fragst, ist er nichts für dich. Der hat kein Geld und nicht einmal Freunde. Außerdem hat er keine Haare”.

Ich verstehe das. Ich liebe mich selbst ohne Haare, betrachte manchmal mein gelungenes Abbild in einem Tropfen Seewasser, aber ein Mann auf Tinder sollte immer schauen, dass ein Paar Haare dabei sind. Nicht zu viele und am liebsten nicht aus dem Hemd hervorguckend, aber schon auf dem Kopf. Sie müssen nicht gekämmt sein. Nicht vorwärts, nicht rückwärts, nicht zur Seite.
Im Gesicht braucht man nur die Menge, die man in 3 Tagen züchten kann. Ja, ich bin da gut informiert, ich weiß, wie es geht.

Ein No-Go ist natürlich das unmoderne Sofa, lila oder grün, ein billiges Sofa. Der Tindermann darf sich nicht auf einem billigen Sofa fotografieren lassen.

Die Frauen vergessen, dass sie selber fast null Chancen haben, solange Manfred mit auf Ruths Foto ist. Manfred ist abschreckend für den durchschnittlichen Tindermann, diese Art von Frauen werden sofort weggewischt. Das wissen Elke und Ruth nicht.

Sie sind hierhin in Urlaub gekommen, weil ein gut aussehender Mann im MDR interviewt wurde, der gesagt hat, Hiddensee wäre genau wie Zeeland in den 80-er Jahren. Das hat die Entscheidung für den diesjährigen Mädelsurlaub leicht gemacht. Man hat schöne, wilde, fast erotische Erinnerungen an die 80-er Jahre. Erinnerungen an einen Strand, wo Sonnenmilch noch zum Bräunen aufgetragen wurde und nach Kokosnuss duftete. Wo man sich in der Mittagssonne in die Dünen gelegt hatte. Wo man Zitronensaft auf die Haare aufgetragen hatte, damit sie richtig ausbleichten. Die Badeanzüge waren fluoreszierend gelb oder grün, orange oder pink.

Diese Atmosphäre würden sie nur zu gerne noch mal erleben, Sand, Sonne, Freiheit. Wilde Jugend, schöne Jungs in Badeshorts und Bändchen um die Handgelenke. Auch wenn es schon längst Herbst ist.
Der Mann im Fernsehen war ein echter Surfertyp, er hatte etwas längere, lockige, graue Haare und eine hagere Gestalt. Eine kräftige Nase. Bestimmt war er auch da gewesen, in Zeeland im Juli 1982.

Sie sind gerade auf der Insel angekommen. Elke musste nicht einmal Urlaub nehmen, sie hat immer frei. Sie hat keine Kinder, der Ehemann ist in der Firma. Ruth braucht einen neuen Mann. Sie ist Witwe. Ihr Mann hatte sie schon vor langer Zeit für eine andere, fröhliche, rothaarige Frau verlassen. Letztes Jahr ist er aber krank geworden und gestorben. Ruth hatte nie in die Scheidung eingewilligt und ist nun offiziell die Witwe. Und das ist, was zählt. Nicht nur finanziell.

Sie sind schon eine Weile auf der Suche nach einem Mann für Ruth. Auf Hiddensee haben sie noch keinen geeigneten gesehen. Das ist der Grund, wieso sie jetzt mal bei Tinder gucken.
Ob der 80-jährige in Jeans, den sie heute morgen beim Bäcker gesehen haben, auch verwitwet ist? Als Partner kommt er natürlich nicht in Frage, er braucht wahrscheinlich nur jemanden, der ihn pflegt. Und das will Ruth nicht. Dafür fühlt sie sich mit Ende 50 noch viel zu jung. Also, sie würde ihn abweisen.
Aber bis jetzt hat er nur freundlich gegrüßt, als sie Brötchen geholt haben. Er sah übrigens nicht einmal danach aus, als wäre er auf der Suche, sondern nur gut gekleidet. Ob das seine jetzige Pflegehilfe für ihn organisiere?

Ich höre ihre Gespräche und frage mich, ob sie sich der Gefahr bewusst sind.

Meine Verwandten sind viele, ein stetiges Graben, Knarren und Knirschen ist im Holz zu hören. Manchmal bewegt sich der ganze Steg und sogar ein unerfahrenes Landei müsste die Schieflage erkennen und Alarm schlagen. Aber Elke und Ruth sitzen ruhig da, lassen die Beine übers Wasser baumeln und tindern vor sich hin.
Mit lautem Geraschel wird eine Papiertüte geöffnet, ich kann nur ahnen, was für einen Fang sie dabei haben. Etwas Süßes vom Bäcker. Sie sind diese Art von Frauen. Während sie essen, kommentieren sie die Fotos der Mannsbilder, die auf dem Telefon erscheinen. Zu dick, zu dünn, sieht so dumm aus, hat aber schöne Augen. Süß ist der.
Die Füße sind in den Wanderschuhen, das höre ich, sie baumeln und treten aufgeregt gegen die Pfosten, immer wenn ein interessanter Mann auf der Bildfläche erscheint, die Brottüte liegt neben ihnen auf dem Steg, der Steg ist dabei, sich aufzulösen.

Ich verhalte mich ruhig, ich habe nicht mehr lange zu leben und bin vollkommen frei. Ich sehe gut aus, habe viele Nachkommen. Meine Vorfahren haben schon die Schiffe des Kolumbus zerstört.

Albrecht Heinemann hat morgens die Frauen schon gesehen, wie sie vier Milchbrötchen und noch zwei Mohnzöpfe gekauft haben. Er saß wie immer draußen auf einem Stuhl und sah sich den Morgen an, die Kunden der Bäckerei. Er hat noch gute Ohren, er hat gehört, wie die Damen sich über seine Kleidung unterhielten. Nachdenklich hat er an sich herunter gesehen.

Im Nachmittag hat Albrecht Heinemann einen gestreiften Pullover übergezogen. Er hat eine dunkelblaue Kappe auf, die Jeans hat er hochgekrempelt. Er geht gegen den Wind, schützt die Kamera und sieht über das Wasser.

Dann bleibt er erstaunt stehen. Der Steg, den er jeden Tag fotografiert, um den Schaden zu dokumentieren, ist heute ein ganzes Stück schiefgesackt. Die beiden Damen sitzen dennoch drauf und essen ihre Mohnzöpfe. Sie haben das Schild wohl übersehen.

Er hätte sie warnen können.
Aber er liebt eine gute Geschichte. Er bleibt ruhig stehen und stellt die Kamera ein. Er wählt die richtige Blende. Er freut sich über das trübe Oktoberlicht, das milchig über dem Meer hängt. Die Farben stimmen.

Ich bin in meinem Wurmloch und wundere mich über die Zeit. Über die Menschen, die denken, dass sie linear läuft. Sie haben einfach nicht verstanden, dass alles gleichzeitig passiert. Es sind die 50-er Jahre, sepia und verwischt, und es sind die 80-er Jahre mit den grellen Neonfarben. Ewig nagen wir an unseren Pfählen und wenn wir sterben, nagen wir immer noch weiter. Wir verdauen das Holz, wir verdauen den ganzen Planeten.

Um mich herum ertönt jetzt ein lautes Krachen, ein tierisch lautes Getöse und der Steg stürzt ein. Ich sehe ein Mobiltelefon, es leuchtet noch eine kurze Weile auf, in Zeitlupe kommt es an meinem Wurmloch vorbei, ich sehe das Profilbild der Ruth, und sehe Manfred. Der Kater grinst, er weiß auch schon alles. Er hat das damals, als das Foto aufgenommen wurde, schon alles vorhergesehen. Eine Millisekunde später sehe ich beide Frauen ins Wasser rollen, sie tauchen unter und versuchen mit den Wanderschuhen Halt zu finden, sie richten sich hustend und prustend wieder auf, das Wasser ist hier nur einen Meter tief. Sie haben herrlich laut geschrien, kurz bevor sie untergingen.
Ich denke an Kolumbus.
Ich weiß, dass mein Freund Albrecht Heinemann das Foto des Monats geschossen hat. Nicht nur sorgt er dafür, dass meine Freunde und Nachkömmlinge bald wieder frische Eichenpfähle zum Essen bekommen, sondern auch, dass man uns ernst nimmt. Wir verdauen den Planeten und er dokumentiert es.

Er ist mein Held.